Cover
Titel
Tunguska. A Siberian Mystery and Its Environmental Legacy


Autor(en)
Bruno, Andy
Reihe
Studies in Environment and History
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
$ 38.38
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva-Maria Stolberg, Bochum

Andy Brunos Studie über das Tunguska-Ereignis von 1908 steht an der Schnittstelle von Umwelt-, Technik- und Wissenschaftsgeschichte. Sie liefert zudem einen wichtigen Beitrag zur Geschichte Sibiriens und der Rolle dieses Naturraums für die russische bzw. sowjetische Wissenschaftsgeschichte; eines Raums, der oft als „frontier“ definiert wird.1 Mit Sibirien verbinden sich zahlreiche Mythen, die vor allem in sowjetischer Zeit ideologisch aufgeladen wurden. Einer dieser Mythen betrifft das kosmische Ereignis in der Nähe der Podkamennaja Tunguska, der Steinigen Tunguska, im damaligen westsibirischen Gouvernement Jenisseisk. Für einen Zeitraum von 1908 bis 2018/2019, dem Jahr, als Andy Bruno selbst Feldforschung im staatlichen Naturreservat Tunguska von Vanavara durchführte, zeigt der Autor in überzeugender Weise die Verknüpfungen bzw. Verwirrungen zwischen faktengestützter Naturwissenschaft (insbesondere Astronomie und Geologie) und emotionsgeladener Parawissenschaft auf. Brunos Fragestellung geht von dem Ansatz aus, wie ein naturwissenschaftlich unerklärliches Phänomen zu Phantasiekonstrukten einlädt und die Grenzen verlässlicher Wissensproduktion aufzeigt. Am Beispiel Tunguska machte sich der viel diskutierte Widerstreit zwischen Methodologie und Mythologie bemerkbar.2 Allerdings vermisst die Rezensentin eine historische Einordnung in die russische Kosmologie (russkij kosmizm), die ihren Ursprung in der slawophilen Denkströmung des 19. Jahrhunderts hatte und der russischen Nation einen herausragenden Stellenwert im Kosmos zuschrieb.3 Die Studie ist auf die Zaren- und Sowjetzeit ausgelegt, jedoch weist der Autor daraufhin, dass parawissenschaftliche Erklärungen im heutigen postsowjetischen Russland kaum noch eine Rolle spielen.

Am 30. Juni 1908, morgens gegen 7:15, stürzte ein Asteroid ca. 65 Kilometer entfernt von der Handelssiedlung Vanavara ab und verursachte eine Reihe gewaltiger Explosionen. Auf einem Territorium von 2.000 Quadratkilometern wurden ca. 60 Millionen Bäume entwurzelt. Dieses kosmische Ereignis lud – wie Arno Bruno auf der Grundlage umfangreichen Archivmaterials ausführt – zu zahlreichen Spekulationen unter Wissenschaftlern und Hobby-Forschern ein. Unklar war, ob es sich um einen Asteroiden oder Meteoriten handelte. Eine Präzisierung ist insofern schwierig, als Unterscheidungsmerkmale bisher nicht genau definierbar sind. Laut der astronomischen Standardliteratur sind Asteroiden „steinige Überreste aus der Ära der Planetenentstehung, Meteoriten „steinige Überreste des solaren Urnebels“. Zudem können Meteoriten Bruchstücke eines Asteroiden darstellen.4 Zum Zeitpunkt der Kollision war kaum etwas über Asteroiden und Meteoriten bekannt, über ihren Ursprung und ihre Zusammensetzung sowie über die verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt. Zu Recht spricht Bruno hier von einer „Landscape of Mystery“ (S. 1). Einzige Augenzeugen dieser kosmischen Katastrophe waren evenkische Rentiernomaden. Sie führten die Explosionen auf den Zorn einer Gottheit zurück. In der russischen Kultur wurde das Tunguska-Ereignis zu einem beliebten Thema des Okkultismus. Wie Arno Bruno nachweist, trugen die Abgelegenheit der Region, ihre dünne Besiedlung und fehlende moderne Kommunikationsinfrastruktur dazu bei, dass im ausgehenden Zarenreich eine Legendenbildung um das Tunguska-Ereignis entstand. Die verbreitete Apathie unter den indigenen Beobachtern des Einschlages weist nach Bruno auf die menschliche Verwundbarkeit hinsichtlich der ökologischen und sozialen Folgen einer kosmischen Katastrophe hin. Von den russischen Zeitgenossen dagegen wurde im Kontext des weit verbreiteten Okkultismus die kosmische Katastrophe als Vorbote des Zerfalls des Zarenreiches gewertet. Es war eine Zeit der Verunsicherung nach der Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905 und der Revolution von 1905. Das Tunguska-Ereignis von 1908 stand für die herannahende Apokalypse, ein Thema, das von der regionalen Presse in Sibirien aufgegriffen wurde und eher zur Panik als zur Aufklärung beitrug.

Die Anfänge einer systematischen wissenschaftlichen Erforschung des Tunguska-Ereignisses fielen erst in die 1920er- und 1930er-Jahre. Dies waren turbulente Jahrzehnte für die sowjetische Wissenschaft, geprägt durch enthusiastischen Aufbruch und stalinistische Repressionen. Eine erste Expedition in das Tunguska-Gebiet wurde 1927 unter Leitung des Geologen und Meteoritenforschers Leonid Kulik entsandt. Hervorzuheben ist, dass Andy Bruno den Einfluss von Forscherpersönlichkeiten auf den Ablauf und den Erfolg von Expeditionen herausstellt. Der Beharrlichkeit einzelner Forscherpersönlichkeiten wie Leonid Kulik und anderen war es zu verdanken, dass bürokratische Hindernisse des sowjetischen Wissenschaftsapparates überwunden werden konnten. Kulik nahm die Expedition zum Anlass die Meteoritenforschung in der Sowjetunion zu etablieren. Sechs Jahre hatte Kulik auf den Start der Expedition warten müssen, da der sowjetische Wissenschaftsapparat nach dem Bürgerkrieg chronisch unterfinanziert war und eine Forschungsreise in eine weit entlegene, von Infrastruktur kaum erschlossene Region auf Skepsis stieß. Institutionelle, aber auch finanzielle Hilfe kam vom Komitee des Nordens (Komsev), 1924 beim Zentralkomitee eingerichtet, um die nördlichen Randgebiete der RSFSR zu erschließen. Mit der Unterstützung erhoffte sich die Parteiführung, im Rahmen einer Expedition, den Aufbau sowjetischer Infrastruktur unter der evenkischen Bevölkerung vorantreiben zu können. Bruno gelingt es, die Abhängigkeit der Wissenschaftler von sowjetischen Institutionen sowie die Rivalitäten und das Eigeninteresse der beteiligten Akteure aufzuzeigen. Demnach erwiesen sich bürokratische Abläufe und Pioniergeist der wissenschaftlichen Persönlichkeiten nicht kompatibel. Bemerkenswert ist, dass es dem verantwortlichen Expeditionsleiter Leonid Kulik gelang, die sowjetische Presse für sein Tunguska-Projekt zu gewinnen, die publikumswirksame Kampagnen zu seiner Unterstützung startete. Damit sollte vor allem die Akademie der Wissenschaften unter Druck gesetzt werden.

Wie auch in den anderen Bereichen der sowjetischen Wissenschaft entbrannte unter der Tunguska-Wissenschaftlergemeinde ein erbitterter Theorienstreit, der zur Hochzeit des Stalinismus zu gegenseitigen Denunziationen führte. Wissenschaftliche Konkurrenz, Neid und persönliche Animositäten trugen dazu bei. Wie Andy Bruno nachweist, wurde die sowjetische Gesellschaft in der Zeit der Stalinschen Repressionen von Sensationalismus und der Faszination für das Mysteriöse erfasst. Im Stalinismus lebte der Okkultismus fort, der seine Nahrung nicht zuletzt durch das Tunguska-Ereignis erhielt. Ein eindrucksvolles Beispiel gibt das Wirken des sowjetischen Science-Fiction Schriftstellers Alexander Kazancev, der als Begründer der sowjetischen Ufologie gilt. Er führte das Tunguska-Ereignis von 1908 auf den Absturz eines außerirdischen, atombetriebenen Raumschiffes zurück. Dies kam nicht von ungefähr, waren doch die 1930er- und 1940er-Jahre von der Faszination für das Atom und die Raketentechnik bestimmt. Die US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und ihre verheerenden Zerstörungen gaben Kazancevs These weiteren Auftrieb, die im Übrigen auch von der internationalen Presse, u.a. von der New York Times, kolportiert wurde. Die kosmische Fantasie einer entstehenden populären Ufologie hatte während des Kalten Krieges zudem eine kulturelle Brückenfunktion zwischen der Sowjetunion und den USA. Andy Bruno zeigt zudem auf, dass die SciFi-Literatur keiner Zensur im Spätstalinismus unterlag. In den Jahrzehnten der Nachkriegszeit wurde das Tunguska-Ereignis von 1908 zum beliebten Stoff der sowjetischen Populärkultur, u.a. in Filmen und Comics, primäre Zielgruppe – neben Erwachsenen – waren Jugendliche. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche florierte die Faszination in der sowjetischen Gesellschaft an dem Paranormalen. Dem Autor ist es gelungen, die langanhaltende Wirkungsmacht einer kosmischen Katastrophe auf eine menschliche Gesellschaft und die Fragilität wissenschaftlicher Erkenntnisse, in deren Vakuum in breitem Maße die Parawissenschaft trat, aufgezeigt zu haben.

Anmerkungen:
1 Alan Wood, Russia’s Frozen Frontier: A History of Siberia and the Russian Far East, 1581–1991, London 2011.
2 Vladimir Rubtsov, The Tunguska Mystery, Dordrecht, New York 2009; Solvejg Nitzke, Die Produktion der Katastrophe. Das Tunguska-Ereignis und die Programme der Moderne, Bielefeld 2017.
3 Baasanjav Terbish, State Ideology, Science, and Pseudoscience in Russia. Between the Cosmos and the Earth, London 2022.
4 Jeffrey Bennett u.a. (Hrsg.), Astronomie. Die kosmische Perspektive, München 2010, S.541.